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Vergessen, bis nichts mehr geht

Vergessen, bis nichts mehr geht

Die Zahl der Demenzkranken steigt stetig an. „Wenn Demenzkranke nur nebenherlaufen“, sagt Wolfgang Cremer von Verdi, „dann wird man der Krankheit nicht gerecht.“ Schuld daran seien die sich ändernden Belegungsstrukturen in den Krankenhäusern, weiß Stefan Russmann, stellvertretender Pflegedienstleiter im Nettetaler Krankenhaus.

Nettetal/ Kreis Viersen.

Krankenschwester S. ist Mutter von zwei kleinen Kindern, die sie nach ihren Nachtdiensten, völlig übernächtigt, pünktlich versorgt und in den Kindergarten bringt. Leider bliebe dieser am nächsten Tag wegen eines Studientages der Erzieherinnen geschlossen, liest sie an der Tür. Gott sei Dank, kommt ihr Mann etwas früher von der Arbeit und sie kann sich um 15 Uhr endlich hinlegen. Ab 20.30 Uhr ist sie wieder für 42 Patienten verantwortlich. Sie muss acht frisch operierte Patienten versorgen, 35 Patienten Medikamente verabreichen, alle zwei Stunden, neun Patienten lagern und all das erledigen, was sonst noch anfällt.

„Wie viel Uhr haben wir?“, fragt eine alte Dame freundlich und steht neben Schwester S. im Stationszimmer. Die Dame ist eine von drei hochgradig dementen Patienten, die Schwester S. ebenfalls zu betreuen hat. Die alte Dame stand vor fünf Minuten schon im Zimmer und stellte die gleiche Frage und sie wird diese Frage die ganze Nacht stellen – alle fünf Minuten. Und wenn Schwester S. nicht im Stationszimmer ist, läuft die demente Dame ihr hinterher – manchmal bis in die Personaltoilette und klopft an die Türe.

Diese Szenerie ist keine Seltenheit, da immer mehr Patienten, neben den „üblichen“ Krankheiten, an Demenz leiden. „Wir haben beispielsweise in Krankenhäusern eine völlig veränderte Belegungsstruktur als noch vor 20 Jahren“, stellt Stefan Russmann, stellvertretender Pflegedienstleitung im Nettetaler Krankenhaus fest. „Ich hoffe, dass die Politik in ihren Überlegungen zur Personalbemessung dies auf dem Schirm behält“, hofft er.

Und wenn nicht? „Auch wenn das keiner wahrhaben will: Die Pflege steht kurz vor dem Kollaps“, mahnt NRW-Landesfachbereichsleiter Wolfgang Cremer von Verdi. „Nur wenn es unserer Gesellschaft gelingt, Strukturen zu schaffen, die die Rechte für Patienten und Pflegepersonal zur Anwendung bringen und diese nicht nur auf dem Papier stehen, können wir Demenzkranke menschenwürdig versorgen“, davon ist Cremer überzeugt. „Es braucht genügend, gut ausgebildetes und zufriedenes Personal, das sich Demenzkranker annehmen kann – dafür muss man als Staat halt Geld investieren. So einfach ist das“, sagt Cremer. Die Frage: „Kommt noch ein ’Aber’?“ „Nein, kein Aber“, ist die Antwort.

(StadtSpiegel)