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Mein Amerika - Extra-Tipp-Interview mit Philipp Poisel

Mein Amerika - Extra-Tipp-Interview mit Philipp Poisel

Der Extra-Tipp sprach mit Philipp Poisel über sein neues Album „Mein Amerika“.

Herr Poisel, sechs Jahre ohne neues Album kommen im schnelllebigen Musikgeschäft einer Sünde gleich. Haben Marktgesetze in der Zeit bis MEIN AMERIKA eine Rolle in Ihren Gedanken gespielt?

In der Zeit war ich mitunter sehr weit weg davon, auf der Bühne zu stehen, in einer Band zu spielen und vom Musikersein. Mein Alltag, hier, wo ich wohne, war so präsent, dass ich fast schon vergessen hatte, irgendwann wieder ein neues Album aufzunehmen. Am Horizont stand schon geschrieben, dass ich irgendwann wieder eine Platte aufnehmen wollen würde. Aber ich hatte mich ganz bewusst in ein „normales Leben“ zurückfallen lassen, um den Kontakt zu meinem Ursprung nicht zu verlieren. Worüber sollte ich Lieder schreiben, wenn ich im Künstler-Elfenbeinturm leben würde?

Sie haben nicht das Gefühl mit MEIN AMERIKA spät dran zu sein?

Doch, aber nur etwa ein Jahr zu spät. Ich habe mir immer schon viel Zeit gelassen. Für mein erstes Album hatte ich sogar meine Kindheit und Jugend als Vorbereitungszeit. Vielleicht bin ich ein bisschen spät dran. Aber einen Zyklus von fünf Jahren könnte ich mir auch zukünftig für meine Platten vorstellen. Ich brauche Zeit, um etwas zu erleben, worüber ich dann auch singen möchte. Ich will mir Zeit für Veränderungen nehmen.

Ist es wichtig für Sie, dass man kontinuierlich Veränderungen in Ihrer Musik hören kann?

Nachdem ich für PROJEKT SEEROSENTEICH meine Lieder neu interpretiert hatte, stand für mich die Gefahr im Raum, in einer Endloswiederholungsschleife zu landen. Ich wollte mich nach dieser Erfahrung verändern und mich auf die Suche nach blinden Flecken oder anderen Seiten von mir begeben.

Auf der Suche sein, das Reisen spielt seit jeher eine zentrale Rolle in Ihrem Sujet. BIS NACH TOULOUSE, MEIN AMERIKA, die Referenz an Robinson und Freitag im neuen Song ROMAN... Bahnt sich Ihr Abenteurergeist unablässig seinen Weg in Ihre Lieder, mit allem Staunen, das dazu gehört? Oder ist es die Flucht vor Bestehendem?

Beides. Wenn ich daheim bin, habe ich Fernweh. Wenn ich unterwegs bin, habe ich Heimweh. In diesem Spannungsfeld entstehen meine Lieder. Meine Kindheit und die Phantasie, die damals so riesig war, beschäftigt mich. An die versuche ich immer wieder heran zu kommen. Phantasie ist ein Land, in dem ich mich mit Genuss aufhalte. Meine Reise nach Amerika war vielleicht auch eine Illustration dieses Landes nach Außen hin.

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Klingt wie eine interessante Lebensreise...

...während der ich mir bewusst Ziele setze, um nicht stehen zu bleiben. Ich möchte natürlich weiterhin gerne auf der Bühne stehen. Es macht mir einfach Spaß, Musik als Beruf oder als Berufung zu verstehen. Aber ich muss damit immer wieder neue Richtungen anpeilen, um mich nicht selbst zu langweilen. Deshalb muss ich vom Sofa aufstehen, um auf der Bühne etwas Neues aufführen zu können.

Inspiriert die Lebensreise den Musikreisenden Philipp Poisel?

Ja, aber diese Medaille hat zwei Seiten. Manchmal wird die Musikreise auch zur Bürde. Mit dem Erfolg kommen auch Erwartungen. Mein Ventil war immer die Freiheit. Diesmal war die Musik auch eine große Belastung und ich flüchtete mich ins Malen, um darin wieder eine Freiheit fühlen zu können. Mein Lebensweg ist nicht nur romantisch. Es liegen auch viele Steine herum, die manchmal ein Chaos nach sich ziehen. Ich muss entspannt sein, um Lieder schreiben zu können. Früher, als ich Hausaufgaben machen musste, griff ich zur Gitarre, um Momente der Freiheit fühlen zu können. Heute experimentiere ich mit Farben, um mich frei fühlen zu können, wenn ich Lieder schreiben will. Ich mag mich gerne spüren beim Schreiben und nicht dem Gefühl erliegen, dass ich dem geschäftlichen Konstrukt zuarbeiten muss, das mit meinem Erfolg geboren worden war.

Amerika dient seit Ewigkeiten als Projektionsfläche für Sehnsüchte. Wie sah Ihr Amerika-Bild vor Ihrer Reise in das Land aus?

Das war vor allem geprägt von Kultur und Entertainment-Geschichten. Ein Freund von mir hatte Kabelfernsehen, da liefen die ganzen Serien der späten 80er-Jahre, „Knight Rider“, „Baywatch“ und all die Sachen, die nicht gerne gesehen waren bei meinen Eltern. Außerdem spielten Videospiele und Musikvideos eine Rolle. Bruce Springsteen habe ich damals für mich entdeckt. Das war ein Volltreffer, den habe ich bei uns daheim im Fernseher angeschaut. Auch der Englischunterricht prägte mein Amerika-Bild. Eine Lehrerin brachte eines Morgens eine Kassette mit, auf dem ein Lied von Woody Guthrie war. Der sang: „This land is my land and this land is your land, from California to New York island“. Die Weite, die der Text ausdrückte, ließ mich wie ein Adler fühlen, der frei über diese ganzen Landschaften fliegen konnte.

Im Titelsong Ihres neuen Albums singen Sie „Ich bin dein Amerika und du bist mein Amerika“. Hat Woody Guthrie den Refrain inspiriert?

Ich habe versucht, eine eigene Interpretation des Guthrie-Songs zu finden, sicher. Diese Größe, die Enge aufbricht, hat meine Phantasie und den Wunsch, das mal mit Haut und Haaren erleben zu wollen, genährt.

Im Song MEIN AMERIKA geht es um Ambivalenzen, um Widersprüche. Statische Sichtweisen liegen Ihnen scheinbar gar nicht.

Ich habe das Stück aus dem Wunsch nach Freiheit und aus einem euphorischen, begeisterten Moment heraus geschrieben. In der Retrospektive erkannte ich dann aber auch andere Seiten an dem Song. Das gefällt mir. Das schöne an Bildern ist für mich auch, dass sie ihre Aktualitäten behalten können, weil sich Perspektiven ständig ändern. Durch die Bilder, die ich in dem Text zeichne, erhält der Song etwas Eigenes, das ich nicht mehr in der Hand habe. Auch ich kann ihn immer wieder aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachten.

Und wie sieht Ihr Amerika-Bild jetzt aus, nachdem Sie dort gewesen waren?

Mein Bild hat sich nicht komplett bestätigt. Aber ich habe neue Erfahrungen mitgenommen. Blut leckte ich in Nashville, wo meine Band und ich einen Bezug zur dortigen Blues-Szene fanden. Ich bin wirklich angefixt von der Musikszene da unten und dem Nashville-Sound. Und ich habe noch mehr Lust aufs Reisen bekommen, denn jedes Unterwegssein öffnet eine weitere, neue Türe. Natürlich habe ich auch Hässliches gesehen, Straßen wie Einöden, die wenig bis gar nicht inspirierend waren. Aber es begeistert mich, Unbekanntes zu entdecken, was man nicht erwartet. Meine Lust aufs Entdecken von New Orleans oder San Francisco ist auf jeden Fall gewachsen.

Bedurfte es Mut, Ihr neues Album MEIN AMERIKA zu nennen? Das Land, über das Sie singen, gibt sich derzeit extrem polarisiert.

Ja, ich weiß. Die Idee, das Album MEIN AMERIKA zu nennen, hatte ich schon länger. In der Zwischenzeit wurde Amerika in den Nachrichten abwechselnd heiß und mit weniger Interesse gehandelt. Dadurch, dass es MEIN AMERIKA heißt und eine Subjektive ist, lade ich jeden dazu ein, seine Sicht auf Amerika beizutragen oder als Feedback zu geben. Ich bin offen dafür und habe nicht vor, irgendwelche statischen Manifeste mit der Platte zu besiegeln. Ich wünsche mir als Künstler und Privatmensch natürlich schon ein Bewusstsein für den ganzen Erdball. Und vielleicht bietet die Musik als Kunstform die Möglichkeit, sich darüber auszutauschen.

Damit sind wir ja gerade beschäftigt.

Amerika hat auch eine wunderbare Seite und ich finde es ganz schön, diese Aspekte des Landes aufzuzeigen. Dass Amerika für alles Mögliche in der Kritik steht, ist die eine Seite. Andererseits ist es aber auch ein wunderschönes Land, das es lohnt, bereist zu werden. Wir konsumieren ja auch viel Amerikanisches. Die ganze Serienkultur beispielsweise, die wir uns liebend gerne reinziehen. Gleichzeitig wird viel über das Land geschimpft.

Gut, dass Sie sich nicht oder nur indirekt politisch positionieren in den Songs von MEIN AMERIKA.

Ich habe natürlich meine Positionen zu bestimmten Themen. Die Demokratie schätze ich hoch ein. Die Musik ist andererseits ein Gebiet, in dem ich mit Politik eine Weile lang nichts zu tun haben möchte. Musik ist mein Freiraum vom weltpolitischen Geschehen, den ich mir auch nehmen möchte.

Als ich las, dass Sie das Album in Nashville aufgenommen hatten, dachte ich: Och nö, jetzt hat der Poisel auch noch ne Americana-Platte eingespielt. Aber das ist MEIN AMERIKA nicht. Die Musik klingt wie Poisel, aber größer, breiter und energetischer orchestriert. Hätte das Album anders geklungen, wenn es nicht in Nashville aufgenommen worden wäre?

Ich hatte mich im Vorfeld viel mit Musikhistorie, aber auch mit Aufnahmetechnik beschäftigt. Früher hatte ich lediglich einen Kassettenrekorder, der für mich die Möglichkeit barg, mich selbst aufzunehmen und meine eigene Stimme zu entdecken. So konnte ich feststellen, wie meine Stimme überhaupt klang.

Interessantes Thema. Die meisten Menschen wirken verstört, wenn sie ihre eigene Stimme wiedergegeben hören, gelinde gesagt. Wie war das bei Ihnen?

Ich hatte eigentlich nie Probleme mit meiner Stimme. Bis ich ein Mal Kritik dafür erntete. Danach wuchs aber auch mein Interesse daran, ein Bewusstsein für meine Stimme zu bekommen. Es ging mir wohl auch darum, weniger angreifbar zu sein, wenn ich singe. Ich habe kürzlich gelesen, dass die Menschen früher in Höhlen gesungen haben, weil sie ihre Stimmen darin wahrnehmen konnten. Diesen Meditationsprozess erlebte ich halt schon in meiner Kindheit mit meinem Kassettenrekorder. Ich konnte meine Stimme damals schon gleichzeitig hören, während ich sprach, weil ich einen Kopfhörer trug. Ich fand die Beschäftigung damit spannend. Damals hatte ich keine Texte geschrieben, sondern viel mehr lautmalerisch gesungen.

Zurück zu den Aufnahmen in Nashville...

...ja genau. Wenn ich heute eine Bandmaschine sehe, dann fühle ich mich an meine Kindheit erinnert. Wenn ich einen Computer als Aufnahmemedium sehe, fühle ich mich an Excel und Buchhaltung erinnert. In ein Studio zu gehen und zu sehen, wie Magnetbänder laufen – das hat eine Unmittelbarkeit, die mich begeistert.

Die gibt es aber nicht nur im Blackbird Studio in Nashville.

Stimmt, aber da haben Bands aufgenommen, die ich in der letzten Zeit gehört und auch schon live gesehen habe, wie Kings Of Leon. James Bay hatte dort auch aufgenommen. Dieser Studio-Raum, in dem wir aufgenommen haben, trotzt allen Vergleichen. So was habe ich hier noch nicht gesehen. Es fällt mir auch kein Studio im hiesigen Teil der Erde ein, der diese Intensität an Historie besitzt. Die Professionalität in Nashville ist auch eine andere. Man fühlt sich dort augenblicklich von einem internationalen Standard umgeben. Da man ja heute mit jedem Computer eine CD aufnehmen kann, waren unsere Aufnahmen in Nashville für mich auch ein Statement gegen die Beliebigkeit. Es war mit egal, ob Nashville gerade angesagt war oder nicht. Ich wollte da hin und mich auf diese Musikreise einlassen.

In Deutschland wird gerne wie blöde nach dem Autobiografischen in Popmusik-Texten gesucht. Suchen Sie auch danach, wenn Sie Musik hören?

Viel Ausdruck steckt für mich in der Interpretation und im emotionalen Ausdruck. Und die musikalische Seite kann auch ungeachtet des Textes autobiografische Züge tragen. Wenn jemand Musik melancholisch arrangiert, ist auch das ein Ausdrucksmittel. Für mich steckt die meiste Magie allerdings während des Hörens eines Albums oder eines Konzerts in der Interpretation. Das sind Momentaufnahmen. Natürlich sind Texte auch wichtig, aber ob sie wichtiger sind als ihre Interpretationen, kann ich nicht pauschal beantworten. Die Verschmelzung von Text, Interpretation und Musik fasziniert mich. Deswegen kann ich mich auch für Gesang begeistern, den ich gar nicht verstehen kann, weil ich natürlich nicht alle Sprachen spreche.

Aber ist das Autobiografische in der Popmusik überhaupt relevant?

Das ist jedem Hörer selbst überlassen, finde ich. Solange man mich in Ruhe lässt. (lacht) Ich wünsche mir schon, jemand zu sein, der Musiker ist und auf der Bühne stehen und sein Geld mit der Musik verdienen kann. Aber als Celebrity wahrgenommen zu werden? Das ist eher nicht mein Wunsch. Ich möchte als Person nicht groß in Erscheinung treten und will auch nicht, dass meine Meinung in der Gesellschaft groß etwas gilt. Musik ist die Sprache in der ich mich am besten ausdrücken kann. Ich hätte nichts dagegen, weiterhin Musik machen zu können. In meiner Musik drücke ich aus, was in mir steckt. Ich würde mir natürlich wünschen, dass der Hörer seine Imagination spielen lässt, wenn er meine Songs hört. Dann muss ich meine Musik nicht groß erklären.

Im Refrain von DAS ERSTE MAL NINTENDO singen Sie: „Das erste Mal getanzt“. Das ist eigentlich eine kitschige Aussage, wenn sie nicht so alltägliche wäre... Ist das alltägliche Kunst und Kultur?

Klar, es gibt ja auch das Volkslied, das ich schätze. Weisen und Volkslieder habe ich im Musikunterricht immer genossen. Ich habe sie immer als zeitlose Bedürfnisse der Menschen empfunden. Der Song, über den Sie sprechen, ist eine Reminiszenz an meine Jugend. Jeder wird sagen können, dass er sich darin wiedererkennen wird, auch wenn der zitierte Satz vielleicht platt ist. Ich schmunzele manchmal selber über die, wenn man so will, Profanität. Aber auf der anderen Seite haben solche Sätze auch etwas schönes, weil sie sehr breit verstanden werden und etwas einfaches besitzen, wie ich finde. Manchmal kommen solche Sätze einfach aus mir heraus.

Sie besitzen keinerlei Eitelkeiten als Texter?

Natürlich bin auch ich manchmal versucht, mich in einem spezielleren Licht zu zeigen. Oder anders gesagt, mitunter will ich in meinen Texten einer sein, der ich eigentlich gar nicht bin. Solche Textversuche schaffen es eigentlich nie auf meine Platten. Vor allem führen sie dazu, dass ich das Einfache, Direkte viel lieber formulieren mag.

Als Gegenentwurf zur Coolness?

Ich habe etwas übrig für eine gewisse Coolness, als Stilmittel. Aber man kann sich das Leben auch selbst schwer machen, wenn man partout cool sein will. Ich mag Filme, in denen Typen cool aussehen. Es gefällt mir auch, im Anzug auf eine Party zu gehen und cool auszusehen. Und manchmal gucke ich mir auch einfach etwas Doofes im Fernsehen an. Das gehört alles dazu.

Sind die vielfach gestreuten, hymnisch-schwelgerischen Refrains auf MEIN AMERIKA eine Folge Ihres Erfolges? Mit anderen Worten, kann die Musik nur größer werden, wenn man erfolgreich ist?

Der Wunsch nach einem Arena-Sound war schon da. Ich habe darin auch eine Möglichkeit gesehen, stilistisch etwas zu verändern. Das Hymnische zeigt auch eine Seite von mir, die ich lange unterdrückte. Ich habe mit meinen Eltern in einer Doppelhaus-Hälfte gewohnt, in der es einfach nicht drin war, laut zu sein. Das erste Mal im Proberaum, das erste Mal mit E-Gitarre, waren die ersten Schritte, zu dem Sound, der mir aktuell gefällt. Jetzt in großen Hallen zu spielen und darin Tempo zu geben, ist auch ein schönes Freiheitsgefühl. Vor allem, wenn es den Zuschauern gefällt und die im Idealfall auch noch mitmachen. Ich freue mich schon darauf, während der kommenden Tour die großen Töne anschlagen zu können. Es macht Spaß, mein Klangspektrum zu erweitern und die kleinen Energiefelder mit den großen zu ergänzen.

Die Hall-Stimme und die simplen Akkorde im Refrain von SAN FRANCISCO NIGHTS lassen darauf schließen, dass Sie mehr Mut zur Popmusik mit ihren großen Gesten und weniger Angst vor Klischees haben.

Die Vorbilder waren musikalisch gesehen zum Teil die Radiohits der 80er- und 90er-Jahre, die ich damals hörte. Ich freute mich immer, deren Refrains mit ihren einfachen, plakativen Aussagen zu hören. Ich habe große Lust daran empfunden, die für mich wieder zu entdecken.

Sind die Bar-Geräusche in SAN FRANCISCO NIGHTS tatsächlich am Golden Gate entstanden?

(lacht) Nein, ich war noch nie in San Francisco. Als ich in Atlanta zwischengelandet war, hatte ich gar keinen Bock mehr, nach Nashville weiter zu fliegen. Am Flughafen standen riesige Wohnmobile herum und ich hatte das Gefühl, am liebsten so ein Wohnmobil zu mieten und einmal quer durch Amerika nach San Francisco zu fahren. Da habe ich gedacht, dass ich noch mal nach Amerika fliegen will. Der Amerika-Traum hat sich mit den Aufnahmen in Nashville nicht erledigt. Es geht weiter. Und hoffentlich irgendwann auch nach San Francisco. Früher bin ich mit dem Fahrrad soweit ich konnte von zuhause weg gefahren, bis ich nicht mehr fahren konnte. Der Wunsch, hinter den Horizont zu schauen, war schon immer da. Aktuell steckt er halt im Amerika-Gewand. Die Bar-Geräusche stammen von einer Geräusche-CD, mit der ich früher auch schon Hörspiele baute.

SAN FRANCISCO NIGHTS ist mit dem Filter am Schluss und dem Gitarrensolo eine Hommage an Lindsey Buckingham von Fleetwood Mac und den Westküsten-Rocksound der 70er-Jahre. Haben Sie den kürzlich entdeckt?

Seit ich anfing, über das neue Album nachzudenken, entdeckte ich Fleetwood Mac für mich. Die Band war in dem Song eindeutig die Referenz. Wenn Sie das raushören können, ist mir das eine große Ehre. In diesem 70’s-Vibe habe ich in den letzten Monaten gebadet. Mit dem entdeckte ich eine neue Welt für mich, die ich vorher noch nicht auf dem Schirm hatte. Es gibt noch so viel Musikgeschichte zu entdecken für mich, abseits der Musik, die jeden Tag im Radio läuft. Ich freue mich jetzt schon darauf, Musikgeschichtsforschung betreiben zu können.

MEIN AMERIKA ist ein inklusives Amerika, es grenzt nicht aus. Gleichzeitig lädt das Album auch inhaltlich zum Dialog ein. Wie neugierig sind Sie auf andere Träume und Perspektiven?

Die Frage, die ich mit dem Album verbinde, lautet: Auf dem Album befindet sich mein Amerika, wie sieht dein Amerika aus? Welchen Traum hast du, wovor hast du Angst? Ich möchte gerne ins Gespräche kommen über diese Fragen. Ich verbinde mit dem Offenlegen meiner persönlichen Seiten auch immer den Wunsch, persönliche Seiten anderer Menschen kennenlernen zu dürfen. Dadurch entsteht Nähe. Nach zwischenmenschlicher Nähe und Gemeinschaft sehne ich mich.

ERKLÄRE MIR DIE LIEBE deklariert den Mut, den es braucht, sich zu öffnen.

Ja, in dieser Hilflosigkeit, in der ich mich auch oft wiederfinde, gibt es nur diesen Weg sich zu öffnen für andere. Dann entsteht das, was ich auch als Liebe bezeichnen würde, dieser Hilfeschrei. Damit geht’s für mich immer los, wenn man sich traut zu sagen: Hey, ich brauche dich eigentlich schon.

MEIN AMERIKA besitzt aufnahmetechnisch viele Polaroid-Momente, die der Musik reichlich Charme verleihen. War Ihnen die Momentaufnahme wichtiger als die Perfektion?

Ja, das Unterbewusstsein gab oft den Ton an. Ich war bereit, meine Ideen musikalisch frei umzusetzen. Immer mit dem Bewusstsein dafür, dass für Perfektion später auch noch Zeit gewesen wäre. Wenn man an dem Punkt ist, kann man Magie einfangen im Studio. Wir hatten uns überlegt, einige Stellen in den Aufnahmen durch perfektere Takes auszutauschen. Aber wir haben Vieles einfach so belassen, wie es geschah. Man kann sich das wie bei einem Psychologen vorstellen. Der hört in einem Gespräch, was ihm sein Gegenüber sagt. Aber er kann im Gesichtsausdruck und in der Stimmlage noch ein paar zusätzliche Informationen sammeln. So war es auch bei den Aufnahmen zum neuen Album. Die Polaroid-Momente gaben der Musik eine Tiefe, die ich weder glatt bügeln noch aufmotzen wollte.

Ist das der Mut zur Performance?

Absolut. Und der Mut zum Moment. Ich habe in den letzten Monaten viele 70’s-Platten für mich entdeckt, die voll sind von diesen magischen Momenten, in denen etwas vielleicht nicht perfekt gespielt ist. Aber die Unmittelbarkeit, die da drin steckt, machen Platten lebendig, energetisch. Beim Hören von James Brown ist mir das unter anderem aufgefallen. Da brüllt jemand an einer Stelle etwas in die Aufnahmen rein, oder James Brown redet irgendwas, das eigentlich gar nichts mit dem Lied zu tun hat. Ihm war es scheinbar egal, ob seine Lieder in irgendein Format passten oder ob sie Hit-Potenzial besaßen. Er machte Musik, nahm sie auf und der Zuhörer konnte diesen Performance-Vibe bei sich zuhause im Wohnzimmer spüren. Das sind die großartigen Momente am Plattenmachen und die habe ich für mich wiederentdeckt, während der Aufnahmen zu MEIN AMERIKA.

Hat sich Ihre Vision zum Album MEIN AMERIKA entsprechend auch während der Aufnahmen verändert?

Ja, ich habe dabei gerne das Bild des Christoph Kolumbus bemüht, der Indien entdecken wollte und Amerika entdeckt hat. So ging es mir auch. Meine Vision war, dass Amerika etwas für jeden ist. Ein Land, das unglaublich viele Kulturen unter einem Deckel vereint. Ich wollte mich auch öffnen Richtung Band. Die Band hat viel beigesteuert. Als Singer-Songwriter war ich früher nicht so offen dafür. Dadurch sind viele Momente des Albums anders geworden als ursprünglich gedacht. Auch die Anordnung der Lieder hat sich immer wieder verändert. Letztendlich folgte ich bei der Zusammenstellung der Tracks meinem Gefühl. Meine Konzeptidee ist dem Reise-Impuls gewichen. Am Ende des Albums hatte ich eine Reise erlebt, die sich unabhängig von meinem vorherigen Plan selbst gestaltete.

Haben Sie DAS KALTE HERZ für den kürzlich angelaufenen, gleichnamigen Kinofilm geschrieben?

Der Regisseur Johannes Naber hatte mich angerufen und gefragt, ob ich vielleicht ein Lied hätte für den Film, den er seinerzeit gerade abgedreht hatte. Nachdem ich den Rohschnitt gesehen hatte, schrieb ich zwei Lieder, DAS KALTE HERZ und BIS ANS ENDE DER HÖLLE. Für letzteren entschied er sich schließlich, aber mir gefiel DAS KALTE HERZ gut und es entstand in der Zeit zwischen der Idee zum neuen Album und der Fertigstellung. Deshalb ist es auf der Platte gelandet.

Der Chor in DAS KALTE HERZ klingt erfreulich wenig manieriert.

Ja, der klingt wie... na ja, nicht gerade wie ein Kaffeekränzchen, das geschlossen die Stimme erhebt. Es klingt eher wie in einem alten Dorf, wenn die Gemeinde bei einer Beerdigung singt. Und dadurch gewinnt der Chor etwas Volkslied-mäßiges. Ich wollte keinen ausgebildeten Chor, keine ausgebildeten Sänger. Mein Produzent hatte Sorge, dass die Stimmen nicht gut klingen könnten. Aber ich entgegnete, dass beim Vortragen eines Geburtstagslieds auch nicht jeder singen kann, aber trotzdem singt. Man singt einfach ein Lied zusammen. Das finde ich schön und so wollte ich das haben.

Charmant, weil es in dem Lied unter anderem um Hochmut geht.

Unter anderem. Es geht auch um das Dörfliche, um die Sprache aus einer anderen Zeit. Der Hochmut ist aber ein zentrales Thema. Hochmut lohnt sich nicht, aber das weiß man immer erst, wenn der Hochmut verklungen ist. Das Düstere in dem Märchen „Das kalte Herz“ von Wilhelm Hauff hat mir schon in der Realschule gefallen.

Letzte Frage: Hat zum Schluss auch tatsächlich jemand Kaffee gemacht?

(lacht) Ja, logisch. Absolut. Wir erfinden dauernd neue Hobbys neben der Musik, was uns Spaß macht. Als Band sind wir gerade auf einem Experimentier-Trip. Wir erforschen den Kaffee, kochen zusammen. Das zeigt den gemeinschaftlichen Aspekt, den es auch gibt, wenn man im Studio ist oder mit der Band unterwegs ist. Das macht einen großen Teil der Musik aus, den aber niemand mitbekommt. Den Kaffee für die ganze Band wird es noch oft geben.

Ganz zum Schluss: MEIN AMERIKA ist...

...nicht das Ende einer Phase, sondern der Anfang von etwas Neuem.

(Report Anzeigenblatt)