1. Mönchengladbach

Der Krefelder Hockey-Nationalspieler Timur Oruz hat Diabetes

Timur Oruz: Über 100 Länderspiele - trotz Diabetes : „Jeder Tag ist eine Herausforderung“

Hockey-Nationalspieler Timur Oruz hat über 100 Länderspiele für Deutschland absolviert und ist Leistungsträger im deutschen EM-Kader. Seine ganze Karriere hat ihn die Krankheit Diabetes mellitus – im Volksmund als Zuckerkrankheit bekannt – begleitet. Wie er es trotzdem zum Profisportler geschafft hat und wieso er sogar froh ist, im Alter von fünf Jahren Diabetes bekommen zu haben, erzählt der sympathische Krefelder hier.

Timur, nur noch wenige Tage bis zum Beginn der Hockey-Europameisterschaft im eigenen Land. Steigt die Anspannung?

Timur Oruz: Definitiv! Ende Juli wurde der EM-Kader nominiert, und das ist noch einmal ein magischer Moment und ein Zeichen, dass die Reise jetzt richtig losgeht. Kein Spieler des aktuellen Kaders hat schon einmal eine Europameisterschaft oder ein ähnlich großes Turnier im eigenen Land gespielt, von daher ist es sicher etwas ganz Besonderes, vor bis zu 9.500 Zuschauern zu spielen. Nach der langen und harten Vorbereitung freut man sich, wenn es endlich losgeht.

Das Publikumsinteresse an der EM ist auf jeden Fall da: Mitte Juli waren schon drei Spieltage, darunter die beiden Finaltage, komplett ausverkauft.

Das ist natürlich schön, wobei es auch immer auf den Blickwinkel ankommt. Würden wir Fußball spielen, wären alle Tage schon weit im Voraus ausverkauft. Das Ziel bei einer Doppel-Heim-EM für Herren und Damen sollte schon sein, dass alle Tage ausverkauft sind. Es verspricht auf jeden Fall ein großartiges Event zu werden, dazu trägt sicher auch die Kombination von Spitzenhockey und den Konzerten von Clueso und Co. bei.

Timur Oruz mit der WM-Trophäe, die die deutsche Hockey-Nationalmannschaft im Januar in Indien gewonnen hat.
Timur Oruz mit der WM-Trophäe, die die deutsche Hockey-Nationalmannschaft im Januar in Indien gewonnen hat. Foto: Frank Uijlenbroek

Ihr seid amtierender Weltmeister, spielt vor heimischen Fans – doppelter Druck oder extra Motivation?

Als Druck würde ich das nicht bezeichnen. Unsere Rolle hat sich sicher vom Jäger zum Gejagten gewandelt, aber für uns, an unserer Herangehensweise an das Turnier hat sich nichts geändert. In der Weltspitze gibt es vier, fünf Nationen, die jederzeit jedes Turnier gewinnen können. Man braucht sich ja nur die Platzierungen bei der Weltmeisterschaft Anfang des Jahres anzuschauen: Wir sind Weltmeister geworden, Zweiter Belgien, Dritter die Niederlande, im Viertelfinale fliegen wir fast gegen England raus… Die drei Erstplatzierten bei der WM starten nun auch bei der EM, von daher ist wohl jedem klar, dass die Europameisterschaft für uns kein Selbstläufer wird. Wir werden voll angreifen, denn die WM ist inzwischen – leider – schon wieder Geschichte.

Apropos Druck: Im Hockey wurde im Vergleich zu anderen Sportarten schon sehr früh Wert auf die mentalen Aspekte im Leistungssport gelegt. Ist sportpsychologische Betreuung bei Euch weiterhin ein großes Thema?

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Der Hockeysport war und ist in vielen Bereichen sehr fortschrittlich, nicht nur im mentalen Bereich. Ich denke beispielsweise an den Videobeweis, den es bei uns deutlich länger als im Fußball gibt und auch besser funktioniert. Mit Henk Verschuur haben wir seit diesem Jahr einen ausgewiesenen Experten der Sportpsychologie gewonnen, der bislang vor allem im Fußball mit internationalen Spitzenteams – FC Barcelona, Manchester City, FC Liverpool – zusammengearbeitet hat. In der Vorbereitung war er schon ein wichtiger Pfeiler für uns im mentalen Bereich und beim Teambuilding. Keine andere Nation hat so einen Top-Staff, und das liegt nicht daran, dass der deutsche Hockey-Verband mehr Geld zahlen kann als andere. Es ist vielmehr unsere gute Teamchemie und die Tatsache, dass wir eine coole Truppe sind, die viele dazu bewegt, mit uns zu arbeiten.

Oruz ist einer der besten deutschen Hockeyspieler. Sein Handy ist sein ständiger Begleiter, um seinen Blutzuckerspiegel zu kontrollieren.
Oruz ist einer der besten deutschen Hockeyspieler. Sein Handy ist sein ständiger Begleiter, um seinen Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Foto: privat

Du hast die Schallmauer von 100 Länderspielen im vergangenen Herbst geknackt, wirst bald 29 Jahren im besten Hockeyalter: Welche Ziele hast du dir noch gesteckt für deine restliche Karriere?

Bestes Hockeyalter ist relativ; dabei kommt es auch immer darauf an, welcher Spielertyp man ist…

Bundestrainer André Henning vergleicht dich mit einem ICE…

…wenn das nicht auf die Unpünktlichkeit der Deutschen Bahn bezogen ist, bin ich einverstanden (lacht). Meine Spielweise ist sehr kraftraubend, ich bin nicht der technisch versierte Typ (grinst). Ich komme eher über meine Power, Athletik und Physis. Körperlich merke ich, dass ich nicht mehr Anfang 20 bin, hatte auch schon ein paar Knie-Operationen hinter mir.

Du hast eine beachtliche Titelsammlung: Olympia-Bronze, Vize-Europameister, Weltmeister - fehlt nur noch der EM-Titel…

Ja, das ist richtig, das darf sich gerne noch ändern. Nächstes Jahr sind dann noch die Olympischen Spiele in Paris, die auch noch ein großes Ziel sind. Ich muss abwarten, ob der Körper dann noch mitspielt, bis dahin ist es noch ein ganzes Jahr, in dem viele passieren kann. Ich möchte da nicht nur irgendwie mitgezogen werden, sondern auch den Ton mit angeben. Mit einem entsprechend positiven Ausgang bei Olympia könnte ich mir dann auch vorstellen, meine internationale Karriere dann zu beenden.

Du denkst tatsächlich schon an einen Rücktritt aus der Nationalmannschaft?

Im Grunde schon. Ich bin dann 30 Jahre alt und verdiene nicht wie ein Profi-Fußballer mit 35 Jahren noch siebenstellige Beträge, ich bekomme höchstens eine Aufwandsentschädigung. Angesichts dessen werden andere Dinge wichtiger, zum Beispiel der Einstieg in den Job nach dem Studium oder die Gründung einer Familie. Mit dem Leben eines Profihockey-Spielers ist das nicht kompatibel, deswegen denke ich schon darüber nach. Bis es soweit ist, dauert es ja aber noch etwas – und man sollte niemals nie sagen.

Seit den Olympischen Spielen 2016 ist auch öffentlich bekannt, dass du Diabetes Typ 1 hast. Nervt es dich, wenn du - zum Beispiel in solchen Interviews wie diesem - als Profisportler immer auch auf deine Krankheit angesprochen wirst?

Nein, im Gegenteil, ich freue mich ja, wenn darüber berichtet wird und die Öffentlichkeit sich dafür interessiert. Der Austausch ist bei einer Krankheit wie dieser sicher der Schlüssel zur Aufklärung und zu mehr Verständnis. Mein Typ Diabetes ist deshalb so besonders, weil sie zu den wenigen Krankheiten zählt, wo du nicht einfach zum Arzt gehen kannst, deine Pille bekommst und dann für ein Jahr eingestellt bist. Bei Diabetes ist jeder Tag eine Herausforderung.

Du warst fünf Jahre alt, als Diabetes bei dir festgestellt wurde. Wie bist du als Kind oder Jugendlicher mit der Krankheit umgegangen?

Ich bin ganz happy, dass ich das so früh bekommen habe! Hört sich vielleicht komisch an, aber ich kann mich nicht mehr an ein Leben ohne Diabetes erinnern, deswegen trauere ich auch nichts hinterher. Andere bekommen die Diagnose mit 23 Jahren und damit ändert sich dann auf einmal das ganze Leben. Mir zerreißt es immer das Herz, wenn ich kleine Babys sehe, die schon Diabetes haben und im ganz jungen Alter gespritzt werden müssen, und ich bin froh, dass ich und meine Eltern das nicht erleben mussten. Retrospektiv kann ich sagen, fünf Jahre war das perfekte Alter, um Diabetes zu bekommen (lacht). Ich persönlich kann heute damit ganz gut leben.

Wie sieht dein Alltag mit der Krankheit aus? Wie oft musst du dir als Profisportler Insulin spritzen?

Grundsätzlich spritze ich mich acht bis zwölf Mal pro Tag. Das ist abhängig von unterschiedlichen Faktoren: Abends spritze ich mir Langzeit-Insulin, dann zu jeder Mahlzeit und zu jedem Snack, die ich als Profisportler zu mir nehme. Dann gibt es noch die Korrekturspritzen, wenn die Werte zu niedrig sein sollten. Insulin wird gespritzt, wenn die Werte zu hoch sind. Sollten die Werte zu niedrig sein, dann nehmen Menschen mit Diabetes Typ 1 Zucker zu sich, zum Beispiel in Form von Traubenzucker oder einem Saft. Über einen Gewebezuckersensor am Oberarm, entwickelt von der Firma Dexcom, ist eine kontinuierliche Zuckermessung im Unterhautfettgewebe in Echtzeit möglich. Darüber bekomme ich aktuelle Werte mit einer Tendenz, ob sie steigen oder fallen, auf mein Handy geschickt und kann entsprechend reagieren. Das Gerät hat auch eine Alarmfunktion, wenn die Werte über- oder unterschritten werden, was besonders nachts eine wertvolle Hilfe ist. Der klassische Piks in der Fingerkuppe, der früher zur Messung notwendig war, entfällt damit. Beim Spritzen bin ich dagegen noch oldschool unterwegs und habe immer einen Insulin-Pen dabei, mit dem ich in Arm, Oberschenkel oder Kehrseite spritze. Ich werde demnächst aber auch mal eine Insulinpumpe ausprobieren.

Gab es Situationen im Training oder Spiel, in denen es für dich aufgrund eines zu niedrigen oder zu hohen Blutzuckergehalts gefährlich wurde?

Zu hohe oder zu niedrige Werte passieren beim Sport leider sehr, sehr regelmäßig, weil es vorher extrem schwierig ist, die körperliche Belastung im Training oder in einem Spiel genau einzuschätzen. Eine Situation, wo ich umgekippt bin und Hilfe von außen gebraucht hätte, ist mir zum Glück noch nicht passiert. Einmal habe ich es als Jugendlicher beim Basketballspielen mit Freunden so übertrieben, dass ich nur noch auf allen Vieren ins Haus kriechen und gerade noch rechtzeitig gegensteuern konnte. Und bei einer Klassenreise nach Rom bin ich beim Joggen in praller Hitze mal fast kollabiert, da habe ich mich gerade noch auf eine Bank gerettet und den Traubenzucker gegessen, den ich zum Glück bei mir hatte. Das war nicht souverän, das hätte ich besser lösen müssen. Insgesamt muss ich zugeben, dass ich meinem Körper mit dem Ausmaß, in dem ich Leistungssport betreibe, keinen Gefallen tue. Es kann sein, dass es mich Lebensjahre kostet. Aber das hält mich nicht davon ab, es trotzdem zu tun, denn ich will ja genau das: Mein Leben leben, ohne mich von der Krankheit einschränken zu lassen. Ich suche aber stets den Mittelweg zwischen möglichem Spaß und nötigem Verzicht.

Gibt es unter Spitzensportlern, auch sportartenübergreifend, eine Community, in der sich Betroffene zum Thema Diabetes austauschen?

Unter uns Sportlern ist der Austausch nicht so ausgeprägt, aber es gibt mit der Dexcom Warrior Community eine Plattform, die inzwischen über 20.000 Dexcom-Nutzer:innen weltweit vereint, die sich gegenseitig inspirieren und motivieren, ihr bestmögliches Leben mit Diabetes zu leben, indem sie persönliche Geschichten und Erfahrungen miteinander teilen und sich für mehr Bewusstsein für Diabetes in der Gesellschaft einsetzen.

Du hast deine Diabetes-Erkrankung zum Anlass genommen, um in Vorträgen darüber zu sprechen...

Seitdem meine Erkrankung durch den Dokumentarfilm „Ecke, Schuss, Gold“, der nach den Olympischen Spielen 2016 entstand, einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, habe ich viele Zuschriften von Sportlern anderer Nationen, aber auch „normalen“ Bürgern, die Diabetes haben, bekommen. Das hat mir die Augen geöffnet: Dass ich für andere, die an Diabetes erkrankt sind, das Vorbild sein möchte, das mir früher gefehlt hat. Deshalb engagiere ich mich in der Aufklärung, das macht viel Spaß.

ZUR PERSON: Timur Oruz wurde am 27. Oktober 1994 in Krefeld geboren. Seit der Jugend spielte er für den Crefelder HTC, seit 2015 spielt er für Rot-Weiss Köln. Seine Schwester Selin Oruz ist ebenfalls Hockey-Nationalspielerin und wie ihr drei Jahre älterer Bruder für den deutschen EM-Kader berufen worden.